Dieser Artikel erschien in leicht gekürzter Form zuerst bei unserem Medienpartner Zeit Online.Die Sucht kam schleichend – und rechtswidrig. Als Gernot Martens* Anfang 2021 begann, auf Fußballspiele zu wetten, suchte er nur den Nervenkitzel. Martens, ein gutverdienender Architekt, brauchte kein zusätzliches Geld. Doch als er gewann, dachte er: „Das bringt ja sogar was ein. “ Also machte er weiter. Dann kam die erste Pechsträhne. Martens erhöhte den Einsatz. „Ich hatte immer das Gefühl, ich muss alles wieder zurückgewinnen.“ Er riskierte mehr, die Verluste wuchsen, bis er im Frühjahr 2022 die Kontrolle verlor. Martens spielte heimlich, nachts am Handy, sogar während der Arbeit. So verzockte er beim Wettanbieter Tipico mehrere tausend Euro im Monat, zuletzt über 30.000 Euro. Eine typische Spielerkarriere – die es laut Gesetz gar nicht mehr geben dürfte. Doch niemand setzt das Gesetz durch. Im Oktober 2022 waren alle Ersparnisse und 50.000 Euro aus Krediten verloren. Seine Frau rettete ihn schließlich. Sie verhandelte mit der Bank und fand heraus, dass Einzahlungen über 1000 Euro im Monat auf das Konto beim Wettanbieter eigentlich verboten waren.
Martens Frau wandte sich an Achim Görg von der Kanzei HLF Rechtsanwälte. Görg sagt: Die hohen Einzahlungen von Martens „sind ein klarer Verstoß gegen die gesetzlichen Auflagen“. Eine Klage auf Rückzahlung der Verluste liegt beim Oberlandesgericht.
Doch Tipico, Marktführer im deutschen Glücksspielgeschäft, muss keine großen Konsequenzen fürchten. Es gebe „keine Nachweise für Verstöße des Veranstalters“, behauptet die staatliche Glücksspielbehörde, obwohl Kontoauszüge die Einzahlungen dokumentieren. Martens irritiert das zutiefst. „Was nutzt das Gesetz, wenn sich diese Firmen nicht daran halten müssen?“, fragt er. „Was macht der Staat da?“
“Ziel ist, das Entstehen von Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern und die Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen.”
— § 1 des Glücksspielstaatsvertrags der deutschen Bundesländer
Mit solchen Fragen kämpfen Millionen Spielerinnen und Spieler in Europa. Viele Regierungen lassen der wachsenden Glücksspielbranche freie Hand, sich den gesetzlichen Kontrollen zu entziehen, auch in Deutschland. Das zeigen Recherchen von Investigate Europe, ZEIT ONLINE und dem ARD-Magazin Monitor. Das Reporterteam sprach mit Insidern aus der Branche und den Behörden von Portugal bis Estland, wertete Dokumente, Register und Datenbanken aus und traf Menschen, die mit den Folgen der Spielsucht kämpfen. Von 2018 bis 2023 verdoppelten sich nur im Onlinegeschäft mit Wetten und Casinospielen die jährlichen Einnahmen der Betreiber in den 27 EU-Staaten und damit die Verluste der Spieler nach Angaben von Statista auf rund 20 Milliarden Euro, davon in Deutschland rund 1,6 Milliarden. In der Folge sei die Spielsucht ein „schnell wachsendes Problem der öffentlichen Gesundheit“ geworden, warnte kürzlich eine Expertenkommission von Lancet, dem führenden medizinischen Wissenschaftsjournal. Allein in Deutschland „müssen wir über 1,3 Millionen pathologisch Glücksspielende reden“, sagt Burkhard Blienert, der Bundesbeauftragte für Sucht und Drogenfragen. Viele gelten als suizidgefährdet, berichten die Fachleute aus den Suchtberatungsstellen.Diese Gefahren des Glücksspiels sind den Regierenden seit langem bekannt. Ausdrücklich heißt es im ersten Satz des deutschen Glücksspielstaatsvertrages, dem gemeinsamen Gesetz der dafür zuständigen Bundesländer: Der Vertrag ziele darauf ab, „das Entstehen von Glücksspielsucht zu verhindern und die Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen.“ Doch in der Praxis unterlaufen die Landesregierungen und ihre gemeinsame Glücksspielbehörde in Halle die eigene Gesetzgebung und haben dazu eine geheime Vereinbarung mit der Glücksspielbranche geschlossen, den Investigate Europe erstmals veröffentlicht. Zudem werden illegale Anbieter aus dem Ausland nicht verfolgt. Und mitten in der EU ermöglicht es die Regierung von Malta den Glücksspielkonzernen, ungestraft rechtsgültige Urteile zur Rückzahlung widerrechtlich kassierter Spieleinsätze aus anderen EU-Staaten zu ignorieren. Den Spielerschutz klammheimlich außer Kraft gesetzt
In Deutschland war das Geschäft mit Glücksspielen lange dem Staat vorbehalten: Lotto, Toto, Spielbanken. Dies änderte sich erst 2021 mit dem „Glücksspielstaatsvertrag“. Seither vergeben die Bundesländer Lizenzen an privaten Firmen für Online-Sportwetten und virtuelle Spielautomaten. Zuvor hatten viele Firmen ihre Spiele einfach ohne Erlaubnis angeboten. Dieses Geschäft wollten die Länder legalisieren – nicht zuletzt, weil sie sich Steuereinnahmen erhofften.
Im Gegenzug sollten die Glücksspielfirmen Auflagen zum Schutz der Spieler einhalten. Das Gesetz begrenzt die monatlichen Einzahlungen eines Spielers auf 1000 Euro und verbietet besonders süchtig machende Wettformate.
Doch die Anbieter bekämpften von Anfang an diese Regeln mit aller Macht. So auch der Marktführer Tipico, bei dem Gernot Martens sein Geld verspielte. Kaum hatte die Firma im Herbst 2020 eine vorläufige Lizenz erhalten, klagte sie gegen die darin vorgegebenen Auflagen. Neben dem Einzahlungslimit wollte Tipico auch das Verbot von Live-Wetten während laufender Sportveranstaltungen kippen. Andere Anbieter folgten diesem Beispiel. Schnell häuften sich Berichte, dass die Einzahlungslimits missachtet wurden – wie bei Gernot Martens.
Als Martens seine Verluste bei Tipico zurückforderte, erhielt er eine überraschende Antwort: „Nahezu alle am Markt tätigen Anbieter haben gegen die Nebenbestimmungen der Konzessionsbescheide geklagt. Diese Klagen hatten aufschiebende Wirkung. Eine Umsetzung des 1000-Euro-Limits stellte zu diesem Zeitpunkt daher keine regulatorische Verpflichtung dar“, behauptete der Kundenservice. Das war rechtlich unhaltbar, bestätigte später das Landgericht Bochum in einem anderen Verfahren. Die Glücksspielbehörde der Länder hatte sogar ausdrücklich den Sofortvollzug der Auflagen verfügt. Dennoch gaben die Länder-Innenminister nach. Am 15. November 2022 schloss Hessen im Auftrag aller Länder einen Vergleich mit Tipico, dem alle Glücksspielanbieter und die Glücksspielbehörde beitraten. Das Rechercheteam veröffentlicht jetzt erstmals das Dokument.
“Kunden mit "problematischem Spielverhalten“, also hohen Einsätzen, machen bis zu 75 Prozent der Umsätze aus ”
— Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren, Glücksspielatlas 2023
Der Vergleich gewährt den Anbietern rückwirkend eine Art Amnestie. Trotz Verstößen gegen die Auflagen über fast zwei Jahre blieb den Anbietern die Lizenz erhalten. Zugleich untergräbt der Vergleich den zentralen Schutzmechanismus des Gesetzes: die Begrenzung der Einzahlungen auf 1000 Euro im Monat. Diese Regel mindert die Gewinne der Anbieter erheblich. Denn Kunden mit „problematischem Spielverhalten“, also hohen Einsätzen, machen bis zu 75 Prozent der Umsätze aus, konstatieren die Autoren des von Sozialwissenschaftlern veröffentlichten „Glücksspielatlas 2023“ .
Unter dem Druck der Anbieter hatten die Landesinnenminister im Staatsvertrag darum eine gefährliche Lücke im Gesetz geschaffen: Jeder Spieler darf sein Limit auf 10.000 oder sogar 30.000 Euro erhöhen, wenn er gegenüber dem Anbieter eine entsprechende „wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in geeigneter und überprüfbarer Weise nachweist (z.B. durch Einkommenssteuerbescheide oder andere Einkommensnachweise und Bankauszüge)“, wie es in der entsprechenden Richtlinie zum Glücksspielvertrag heißt.
Der bislang geheime Vergleich erlaubt es den Glücksspielanbietern dagegen „als Vermögensnachweis bei der Limiterhöhung auf € 10.000 nur eine sogenannte „Schufa-G-Abfrage“ durchzuführen. Diese spezielle Glücksspiel-Auskunft basiert auf dem Zahlungsverhalten einer Person und prognostiziert die künftige Zahlungsfähigkeit. Wie hoch das tatsächliche Einkommen oder Vermögen eines Spielers ist, weiß die Schufa gar nicht.
„Das ist für die Suchtprävention völlig ungeeignet“, sagt Konrad Landgraf, Geschäftsführer der bayerischen Landesstelle Glücksspielsucht. „Als ich bei Tipico testweise mein Limit auf 10.000 Euro erhöht habe, erhielt ich die Bestätigung binnen einer Minute. Damit hätte ich weit mehr als mein gesamtes Jahreseinkommen verspielen können. Ob ich mir das hätte leisten können, ohne zu verarmen, wurde ganz offensichtlich nicht geprüft.“
Der von den Ländern besetzte Verwaltungsrat der Glückspielbehörde stimmte dem Vergleich dennoch im November 2022 mit großer Mehrheit zu. Das Landgericht Lüneburg urteilte inzwischen zwar, die Schufa-Abfrage erfülle nicht die gesetzlichen Anforderungen, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nachzuweisen. Dennoch haben nach Zählung der Glücksspielbehörde rund 300.000 Spieler ihr Limit auf dieser Grundlage auf über 1000 Euro erhöht. Die Aufsichtsbeamten sind aber an den Vergleich gebunden und müssen die Schufa-Abfragen als rechtmäßig anerkennen. In der Folge gibt es nach Angaben der GGL inzwischen rund 300.000 Spieler mit einem Einzahlungslimit von mehr als 1000 Euro im Monat. Und ihre Zahl wächst. Auch die im Gesetz ausdrücklich verbotenen Live-Wetten dürfen die Anbieter verkaufen, bis ein Gericht über ihren Einspruch entschieden hat. Das aber ist auch zweieinhalb Jahre nach Abschluss des Vergleichs noch nicht geschehen.
Den einst beschlossenen „strikten Regeln fürs Glücksspiel“ sei „eine breite öffentliche Debatte in den Landtagen“ vorausgegangen, sagt der Suchtbeauftragte Blienert. Wenn er „nun höre, dass diese Regeln im Nachhinein klammheimlich wieder außer Kraft gesetzt werden, macht mich das richtig wütend. Die Anbieter bekommen einen Freifahrtschein, noch mehr Profit auf Kosten der Gesundheit und am Ende der Allgemeinheit machen zu dürfen“.
“Die Zulassung von Schufa-G widerspricht den Zielen des Glücksspielstaatsvertrags und ist den Glückspielanbietern unverzüglich zu untersagen”
— Ulrich Mäurer, Innensenator in Bremen
Mit anderen Worten: Mittels eines zivilrechtlichen Vergleichs mit der Glücksspielbranche setzten die Länderregierungen die zentrale Bestimmung zum Schutz vor der Spielsucht außer Kraft, ohne ihre Parlamente zu befragen. „Vieles spricht dafür, dass das ungesetzlich ist“, sagte der renommierte Staatssrechtler Professor Christoph Degenhart und regt eine verfassungsrechtliche Prüfung an. Schließlich darf sich die Exekutive die Gesetze nicht selbst machen, sondern muss die Parlamente entscheiden lassen.
Die verantwortlichen Ministerinnen und Minister lehnten Interviews zum Thema ab. Schriftliche Fragen beantworteten nur elf der sechzehn Bundesländer. Zehn davon weisen jede Kritik am Vergleich zurück. Er sei erforderlich gewesen, um „strittige Rechtsfragen zu klären“, erklären sie unisono. Nur Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) hält dagegen. Nach Einschätzung seiner Behörde „widerspricht die Zulassung von Schufa-G den Zielen des Glücksspielstaatsvertrags, das Entstehen von Glücksspielsucht zu verhindern“. Deren Nutzung sei „den Glückspielanbietern unverzüglich zu untersagen“, fordert er.
Kriminelle Glücksspielanbieter haben in Deutschland nichts zu befürchten
Auch wenn das gelingt, bleiben viele tausend Spieler ungeschützt. Denn der Online-Glücksspielmarkt gleicht einem Eisberg. Die legalen Anbieter sind sichtbar und können zumindest im Prinzip reguliert werden. Doch unter der Oberfläche verbirgt sich der weitaus größere, illegale Teil des Milliardenmarkts. Mit wenigen Klicks gelangt man auf Websites mit virtuellen Automaten oder Sportwetten, deren Betreiber in hierzulande keine Lizenz besitzen. Ihre Namen prangen dennoch auf Trikots von Spitzen-Fußballmannschaften, sie sind von legalen Anbietern kaum zu unterscheiden.
Auf dem Handy von Felix Berger* leuchtet ein buntes Logo in Dschungel-Optik. Comicfiguren drehen sich auf den Rädern virtueller Automaten, es blinkt und dudelt. Ein Spiel dauert nur wenige Sekunden. Solche Automaten sind das Crack unter den virtuellen Glücksspielen. Sie ziehen Süchtigen in kürzester Frist Unsummen aus den Taschen. Deutschland hat diesen besonders gefährlichen Spielen deshalb enge Grenzen gesetzt: Maximal ein Euro Einsatz pro Runde, Spieldauer mindestens fünf Sekunden.

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Doch das Online-Casino, das Berger vorführt, ignoriert diese Regeln. Es wurde einst von der niederländischen Karibikinsel Curaçao aus betrieben, jetzt von den Komoren, besitzt keine deutsche Lizenz, bietet seine Dienste aber auf Deutsch an und ist problemlos aus Deutschland zu erreichen. Felix Berger verzockte dort 245.000 Euro, in nur sechs Monaten. Stundenlang daddelte er, sogar auf dem Weg zum Spielplatz, eine Hand am Handy, die andere an der Hand seiner Tochter.
Wie groß der illegale Markt tatsächlich ist, weiß niemand genau. Die Glücksspielbehörde zählte 2023 für Deutschland mehr als 760 Websites, auf denen zwischen 400 und 600 Millionen Euro unerlaubt verspielt worden sein könnten – ein Marktanteil von bis zu 40 Prozent. Viele Insider halten das für eine Untertreibung und sprechen von einem Milliardengeschäft. Der deutsche Online-Casinos-Verband schätzt den Anteil des Schwarzmarkts am Umsatz auf 75 Prozent, Tendenz steigend.
Das Strafgesetzbuch sieht gewerbsmäßige Anbieter illegaler Glücksspiele hohe Strafen vor: Gewerbsmäßigen Anbietern drohen bis zu fünf Jahre Haft. Doch Haftbefehle werden fast nie ausgestellt. Schlimmer noch: Die illegalen Anbieter werden zumeist gar nicht erst ermittelt. Die Glückspielbehörde stellte seit 2023 zwar mehr als 120 Anzeigen bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Halle. Aber alle Verfahren wurden eingestellt, sobald die Spuren ins Ausland führten. Es handele sich um „Auslandstaten“, auf die das deutsche Strafrecht nicht anwendbar sei, teilte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft mit. Seine Behörde könne nur ermitteln, wenn der Täter Deutscher und die Tat auch im Ausland strafbar sei.
Der Frankfurter Oberstaatsanwalt Jesco Kümmel widerspricht. Er leitet die Abteilung für Organisierte Wirtschaftskriminalität und sieht keinen „vernünftigen Zweifel“, dass das Strafrecht auch für ausländische Anbieter gelte, wenn diese gezielt den deutschen Markt ansprechen. So schreibt er es in einem Fachaufsatz. Seine Abteilung ermittelt denn auch in mehreren Fällen gegen illegale Anbieter, die ihren Sitz im Ausland haben, ihre Angebote aber ausdrücklich auf Deutschland ausrichten. Zu Umfang und Anzahl der Verfahren könnten keine Angaben gemacht werden.Ein Hebel könnte demnach auch das Steuerrecht sein. Aus der Regelung mit dem klingenden Namen „Rennwett- und Lotteriegesetz“ folgern auch andere Juristen, dass selbst Anbieter ohne Erlaubnis Steuern abführen müssen.
Und absurderweise gehen beim Finanzamt in Frankfurt tatsächlich auch Steuern aus illegalen Glücksspielgeschäften ein, bestätigt ein Behördeninsider. Damit wollten einzelne Offshore-Casinos ihr Geschäft gegen Steuerermittler absichern, vermutet er. Der Anfangsverdacht auf Steuerhinterziehung ist dann kaum zu begründen. Die zuständige Oberfinanzdirektion Frankfurt will aber gar nicht wissen, wie viel schmutziges Geld die Staatskasse aus den strafrechtlich verbotenen Geschäften einnimmt. Man erfasse bei der Annahme der Abgaben nicht, ob die Unternehmen überhaupt eine Lizenz haben, erklärt die Behörde auf Anfrage.
Der Fall von Berger zeigt jedoch, dass es durchaus möglich ist, auch die Hintermänner der illegalen Angebote aufzuspüren. Investigate Europe folgte der Spur von Bergers Einsätzen und stieß auf ein Geflecht aus Firmen, hinter denen das inzwischen insolvente Unternehmen Rabidi mit Sitz in Curacao steht. Die Hintermänner agieren mit einer weiteren Firma namens Soft2Bet noch immer am Markt, deren Gründer als Multimillionär auf Zypern lebt. Sie steht mit Glücksspiel-Websites in Verbindung, die aus vielen EU-Ländern erreichbar sind – oft ohne nationale Lizenz. Auf Anfrage von Investigate Europe bestreitet Soft2Bet alle Vorwürfe.Eine weitere Spur führte nach Deutschland: Die deutsche Website des Glücksspiel-Anbieters Boomerang erreicht hierzulande jeden Monat Millionen Aufrufe. Eine deutsche Konzession hat sie nicht. Auch in Frankreich, Spanien, Griechenland und Italien sind die Seiten der Firma gesperrt. Trotzdem ist Boomerang der bezahlter Wettpartner des AC Milan und gezockt werden kann trotzdem, belegen Selbstversuche. Angst vor den Behörden haben die Betreiber offenbar nicht: Die zwei Russen, die offen als Gründer auftreten, ließen im Herbst 2022 gar eine Immobilien-Investment-Firma in Berlin registrieren und gaben einen Wohnsitz in Mitte an. Eine Anfrage zu ihren Geschäfte ohne Konzession ließen sie unbeantwortet. Ex-Spieler Berger klagte gegen Rabidi und gewann. Der Glückspiel-Anbieter muss ihm seine Verluste ersetzen. Bekommen hat Berger bislang jedoch keinen Cent. Die Eigner aus Zypern schickten ihre Firma einfach in die Insolvenz, und verlegten den Sitz auf die Insel Anjouan im indischen Ozean. Dass sich die Justiz derart schwertut mit der Verfolgung, versteht Berger nicht. „Die machen einen Reibach, und hier krachen die Existenzen.“ Zumindest diesen Missstand wollen die Länder nun angehen. Die Innenministerkonferenz forderte im Dezember, dass die illegalen Angebote aus dem Ausland „aufgedeckt, konsequent verfolgt und angemessen bestraft“ werden müssten, und die Bundesregierung die strafbarkeit auch auf Täter im Ausland ausdehnen solle. Das Bundesjustizministerium sieht dagegen keinen Reformbedarf: „Strafwürdiges Verhalten in Zusammenhang mit unerlaubtem Glücksspiel“ werde „vom geltenden Recht bereits ausreichend erfasst“, erklärte ein Sprecher wider alle Tatsachen.
Der Malta-Trick
Gleichzeitig lassen dieselben Landesminister aber zu, dass auch Konzerne mit einer offiziellen deutschen Konzession sich nicht an die deutsche Rechtsprechung halten. Davon kann etwa die Betriebswirtin Sabine Helm ein Lied singen. Sie war 2020 in die Fänge eines Sportwetten-Anbieters geraten. Sie hatte ihre alte Wohnung verloren, fand nur eine deutlich teurere und geriet darüber in Geldnot. Also versuchte sie ihr Glück bei Betway. Dort kann man mit wenigen Euro Einsatz hohe Gewinne erzielen – so scheint es zumindest. Was Helm nicht ahnte: Betway versteht es, Spieler an sich zu binden. Mit Boni und einem „VIP“-Status zog der Glücksspielanbieter Helm immer tiefer in die Spielsucht. Nach drei Jahren stand sie mit fast 200.000 Euro in der Kreide und musste ihre Eltern um Hilfe bitten, um über die Runden zu kommen.
Wie Gernot Martens und Felix Berger klagte auch Sabine Helm gegen ihren Wettanbieter und forderte ihre Verluste zurück. Das Oberlandesgericht ihres Bundeslandes gab Helm schließlich Recht und urteilte, Betway müsse ihr rund 180.000 Euro erstatten. Denn Betway hatte seine Spiele bis 2020, also noch vor Inkrafttreten des Glückspielstaatsvertrags, in Deutschland ohne Konzession angeboten. Doch Betway, eine Tochterfirma des börsennotierten US-Konzern Super Group, zahlt einfach nicht.
Genauso geht es Tausenden Ex-Spielern, und das nicht nur in Deutschland. In mehreren EU-Staaten verkauft die Glücksspielbranche ihre Risikospiele auch dann, wenn das die nationalen Gesetze dort gar nicht zulassen. Dagegen können oder wollten - wie im Fall Deutschland - die nationalen Behörden oft nicht vorgehen. Gleichwohl können die geschädigten Spieler darauf pochen, dass es die Glücksspiele gar nicht erst hätte geben dürfen, und auf Rückzahlung klagen, meist mit Erfolg.
Die Klagewelle begann vor fünf Jahren zunächst in Österreich, setzte sich dann in Deutschland fort und läuft jetzt in den Niederlanden und Schweden hoch. Er rechne mit an die 100.000 solcher Klagen, berichtet Bendikt Quarch, Chef der Firma Rightnow, die selbst für „mehrere tausend Klienten“ solche Prozesse führt. Die EU-weit gerichtlich verfügten Rückzahlungen könnten sich alsbald „auf eine Milliarde Euro summieren“, schätzt Quarch.
Wie Betway weigern sich jedoch fast alle Anbieter, den Gerichtsurteilen zu folgen – und kommen damit durch.
Denn sie haben allesamt ihren Sitz in Malta. Und dort hat das Parlament im Juni 2023 ein in der EU einzigartiges Gesetz beschlossen, im Branchenjargon „bill 55“ genannt. Das verbietet den Gerichten des Landes, zivilrechtliche Urteile aus anderen EU-Staaten gegen Unternehmen der Glücksspielbranche zu vollstrecken. Diese bestreiten mit ihren EU-weit erzielten Umsätzen fast 12 Prozent der maltesischen Wirtschaftsleistung und die Regierung will diese Steuerquelle und die zugehörigen Arbeitsplätze offenbar um jeden Preis schützen.
Was das praktisch bedeutet, erfuhr der Wiener Anwalt Karim Weber, der 15.000 Kläger gegen die Glücksspielindustrie vertritt. In Österreich sind private Casinospiele untersagt. Folglich sind „all ihre Verträge mit den Spielern nichtig“, sagt Weber, und genauso entschieden die österreichischen Gerichte in fast allen bisher verhandelten Fällen. Doch das schert viele Glücksspielfirmen nicht. Sie betreiben ihre illegalen Geschäfte offensiv, als hätten sie einen Anspruch darauf.
So hält es etwa der britische Glücksspielkonzern Flutter, der mit einem Börsenwert von 49 Milliarden Dollar weltweiter Marktführer ist, und in Österreich unter der Marke „Pokerstars“ operiert. Dort seien „Forderungen von Spielern auf Rückerstattung historischer Verluste eingegangen, die auf der Behauptung basieren, dass das iGaming-Angebot im Rahmen einer maltesischen Fernlizenz gegen das örtliche Recht verstößt“, schreibt der Konzern in seinem Jahresbericht und erklärt trotzig: „In Österreich, wo es keinen lokalen Rechtsrahmen gibt, sind wir dennoch weiterhin im Rahmen unserer maltesischen Fernlizenz tätig.“ Man werde diesen Standpunkt auch weiterhin vor den Gerichten in Österreich und Malta verteidigen, erklärte das Unternehmen auf Anfrage.
Und die maltesische Justiz deckt das. Zwar sprachen die Gerichte in Österreich und Deutschland schon bis Ende 2023 Flutter-Kunden Rückzahlungen in Höhe von 40 Millionen Euro zu, räumt der Konzern ein. Fast die Hälfte dieser Summe steht allein Webers Klienten zu. Doch die mehr als 200 Fälle, für die er bei maltesischen Gerichten bereits Vollstreckung beantragt hat, liegen alle auf Eis. „Der Antrag wird zurückgewiesen“, schreibt das Gericht dann lapidar und verweist auf das neue Schutzgesetz, so auch im Fall der maltesischen Tochterfirma von Flutter.
Das verstößt nach Ansicht der meisten Fachleute gegen EU-Recht. „Bill 55 bricht das EU-Gesetz, das die gegenseitige Anerkennung von Gerichtsurteilen über die Grenzen der Mitgliedsstaaten hinweg vorschreibt“, sagt Miguel Poiares Maduro, der als langjähriger Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs zu den Top-Experten zählt. Der zuständige maltesische Wirtschaftsminister Silvio Schembri und seine Aufsichtsbehörde lehnten es denn auch ab, sich kritischen Fragen zu stellen.
Die Anwälte Weber, Quarch und viele ihrer Kollegen forderten darum die EU-Kommission auf, gegen Malta ein Verfahren wegen Vertragsverletzung zu eröffnen. Doch merkwürdig: Fast zwei Jahre nach Verabschiedung des fragwürdigen Gesetzes erklären die EU-Beamten noch immer, es sei „noch in der Prüfung“. Das empört sogar die konservative Vizepräsidentin des EU-Parlaments Sabine Verheyen. Sie sei „nicht nur erstaunt, sondern wirklich verärgert“ über das zögerliche Vorgehen, sagt sie. „Wenn es um illegale Angebote geht, die die nationale Gesetzgebung nicht respektieren, dann ist es meiner Meinung nach absolut nicht verständlich, dass die Kommission hier nicht tätig wird“, kritisiert die CDU-Abgeordnete.
Hoffnung auf den Europäischen Gerichtshof
Gernot Martens, Thomas Berger und Sabine Helm haben die Spielsucht hinter sich gelassen. Es war ein harter Kampf. Ob sie zumindest einen Teil des verlorenen Geldes zurückbekommen, wissen sie noch immer nicht. Wie zigtausende weitere ehemalige Spieler in der EU hoffen sie auf den Europäischen Gerichtshof, der sich auf Antrag von drei nationalen Gerichten über die Zulässigkeit des maltesischen Sondergesetzes entscheiden wird.
Völlig offen ist auch die Zukunft des deutschen Sonderweges. Folgen die Innenminister der Einschätzung ihres Bremer Kollegen Mäurer und der Gerichte zur Scheinprüfung durch die Schufa-Abfrage, dann müssen sie ihren Deal mit der Branche kündigen. Bis Ende 2026 ist ohnehin eine Evaluation des Glücksspielstaatsvertrags vorgesehen.
Würden sie das Gesetz dann so umsetzen, wie es vorgesehen war, müsste die GGL künftig auch gegen die Firmen vorgehen, die zwar wie Flutter oder Betway in Deutschland eine Konzession haben, aber im Ausland illegale Geschäfte machen. Schließlich heißt es im
Glücksspielstaatsvertrag, dass eine Konzession nur erteilt werden darf, wenn „weder der Antragsteller selbst noch ein mit ihm verbundenes Unternehmen ...unerlaubte Glücksspiele veranstaltet“. Und die amtlichen Erläuterungen halten ausdrücklich fest, dass „auch die Veranstaltung unerlaubten Glücksspiels im Ausland zu einer Versagung der Erlaubniserteilung führen kann.“ Doch diese Prüfung, so schreibt die Behörde auf Nachfrage, dürfe „nicht in Uferlosigkeit münden“.
Legal oder illegal? Bisher ist das den Landesministern und ihrer Behörde offenbar egal.
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*Die Namen der zitierten Spieler wurden geänder